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Wir können als Recruiter*innen nicht aus unserer Haut. Es gibt Kandidat*innen, die sind uns auf Anhieb sympathisch; andere sind es weniger. Bei einigen ist die Gesprächsbasis super; wir befinden uns schnell im Flow. Und eigentlich wissen wir nicht warum. Der Volksmund sagt dann: „Die Chemie stimmt…“. Andere Gespräche sind einfach nur „zach“ und mühsam…
Nun die bittere Erkenntnis: Das hat weniger mit unserer Expertise im Recruiting als mit Themen wie „Bias“ oder Vorurteilen zu tun.
Ich höre schon den Chor der Entrüsteten: „Natürlich sind wir “me too”- und gendergeschult, außerdem haben wir viel Erfahrung und schon tausende Bewerbungen gesichtet und hunderte Bewerbungsgespräche geführt. Ja, das mag sein. Aber es ändert nichts daran, dass die Filter, Verzerrungen oder Vorurteile in unserem Kopf ein ständiger Begleiter bei allen Entscheidungen sind.
Die gute Nachricht: Alle haben es…
Dr. Eva Voß, Managerin Diversity & Inclusiveness für Deutschland, Schweiz und Österreich bei EY hat jedoch eine gute Nachricht für uns: „Die gute Nachricht zuerst: Jeder Mensch – egal ob Mann, Frau, alt oder jung und unabhängig von der Berufserfahrung, dem Bildungsstand oder Migrationshintergrund – hat unterschiedliche unbewusste Vorurteile und Wahrnehmungsmuster (Unconscious Bias). Darin sind wir also alle gleich. Vorurteile und Stereotype bergen durchaus Vorteile, denn sie vereinfachen uns den Alltag und reduzieren die Komplexität der stetig fließenden und zu verarbeitenden Informationen.“ (Quelle). Folgendes Video der Universität Wien gibt einen wunderbaren Einblick in das Thema „Unconscious Bias“
Mehr als 100 Bias-Filter identifiziert
Der Cognitive Bias Codex (wichtige Bias finden Sie hier beschrieben) listet weit mehr als hundert Wahrnehmungsverzerrungen. Einige von diesen Bias scheinen banal, andere ähneln sich sehr stark, allerdings haben diese „Bias“ Auswirkungen auf unsere Entscheidungen. Sie helfen uns die zahlreichen Informationen, die wir verarbeiten müssen, zu filtern. Der Cognitive Bias Codes wird grob in vier Themenbereiche aufgegliedert, auf die nicht weniger als 189 einzelne Filter respektive Verzerrungen aufgeteilt werden (im Uhrzeigersinn):
- zu viel Information -> diese Bias helfen die Informationsflut zu sortieren
- zu wenig Bedeutung -> diese Bias helfen dabei Informationen zu filtern, um ihnen Sinn zu verleihen
- die Notwendigkeit, schnell zu handeln -> selbst erklärend
- was soll in Erinnerung bleiben? -> Filter, die uns helfen welche Informationen gespeichert werden und welche nicht.

Natürlich können wir nicht alle Arten von Bias an dieser Stelle besprechen: Andrea Brinkmann hat eine ganze Masterarbeit zum Thema geschrieben. Sie beschreibt eingehender die Phänomene Lookismus, Ageismus, Halo-Effekt, Gender-Bias, Motherhood Bias, Mini Me sowie den Primacy-Recency-Effekt respektive den Kontrast-Effekt, den wir in der Folge anhand von Beispielen eingehender besprechen wollen. Eine gute Übersicht über viele weitere Bias-Effekte liefert Dominik Josten in HR Heute. Hier kann man sich in nur 18 Minuten einen guten Überblick zum Thema verschaffen.
Stellvertretend: Der Kontrast-Effekt: Beispiele aus der Praxis
Kommen wir zum Kontrast-Effekt. Die bereits angesprochene Andrea Brinkmann definiert ihn wie folgt:
Vom Kontrast-Effekt ist die Rede, wenn für Beurteilungen Vergleiche herangezogen werden.
Ein Objekt oder eine Person wird positiver beurteilt, wenn ein vergleichbares Objekt / eine
vergleichbare Person zuvor negativ beurteilt wurde. Umgekehrt funktioniert der Kontrast-Effekt
genauso, d. h., kommt es zuvor zu einer positiven Beurteilung, kann die nachfolgende Meinungsbildung durch den Kontrast-Effekt negativ in Hinblick auf ein Objekt oder eine Person
ausfallen. Der Grund dafür liegt darin, dass Urteile stark vom Kontext abhängen, der gleichermaßen als Vergleichsstandard gilt. Beim Kontrast-Effekt im Zusammenhang mit Personalprozessen kommt es möglicherweise zu Vergleichen zwischen Kandidaten oder aber auch zwischen Kandidat und Vorgänger. (Brinkmann; Seite 20)
Das Kontrastprinzip erlebe ich in der Praxis sehr oft bei Nachbesetzungen von Stellen. Einmal erzählte mir ein technischer Leiter eines mittelständigen Installationsunternehmens, dass er keine Mitarbeiter*innen mit einer bestimmten Herkunft einstellen würde, da in seinem Unternehmen es zu Grüppchen- und Klüngelbildung käme. Er wolle jetzt Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichen Herkunftsbiographien einstellen. Das was auf den ersten Blick nach einer diversen Strategie ausschaut, wird natürlich auch vom Kontrast-Effekt geleitet. Ein anderer Personalverantwortlicher (männlich) wollte unbedingt einen Mann für eine bestimmte Position einstellen, da seine beiden letzten Assistent*innen nach kürzerer Zeit im Unternehmen schwanger wurden und ihren Mutterschaftsurlaub antraten.
In beiden Fällen führen negative Erfahrungen / Beurteilungen dazu, dass man in der Personalsuche stark auf Kontrast setzt. Das Gegenprogramm soll vor negativen und falschen Entscheidungen schützen… Aber auch ein Mann kann das Unternehmen wieder verlassen und auch Mitarbeiter*innen mit anderem Diversitätshintergrund sind eine Garantie, dass Cliquen aufgebrochen werden und dass die Grüppchenbildung unter Mitarbeiter*innen unterbunden wird.
Ein weiteres Beispiel möchte ich aus der Welt des Fußballs bringen. In der österreichischen Bundesliga scheint der Konstras-Effekt bei der Bestellung von Trainer*innen und / oder Manager*innen oft zum Tragen zu kommen. Hier ein Ausschnitt aus einem Artikel über eine schon etwas länger zurückliegende Personalentscheidung des SK Rapid.
„Doch [Damir] Canadis Außenseiter-Fußball passte nicht zum dominanten Selbstverständnis von Rapid. Eine sportliche Vision fehlt Rapid bis heute. Den Nachfolger von Sportdirektor [Andreas] Müller ermittelte [Michael] Krammer vor drei Jahren mithilfe eines Persönlichkeitstests. Es wurde ein sanftmütiger Gegenpol zum aufbrausenden Trainer Canadi gesucht. Der Schweizer Fredy Bickel war ein sympathischer Mann, aber weiterentwickeln konnte er Rapid bis zu seinem Abgang vor wenigen Wochen nicht. In den vergangenen drei Jahren beschäftigte Rapid fünf Trainer und drei Sportdirektoren. (Quelle).
Wie gesagt: Das Kontrastprinzip scheint im österreichischen Fußballgeschäft öfters zum Tragen zu kommen. Wird ein ausländischer Trainer von seinen Pflichten entbunden, kann man fast schon sicher sein, dass der nächste Trainer einen österreichischen Pass besitzt. Nur in anderen Bereichen greift das Kontrast-Prinzip nicht: Bisher gab es noch keine Trainerin, die eine österreichische BundesligaMANNschaft betreut und auch bei der Hautfarbe, haben wir es genuin mit weißen Männern zu tun.
Natürlich könnte man sagen, dass es sich in diesen Fällen keineswegs um Vorurteile, sondern vielmehr um geronnene Erfahrung handelt? Aber das ist leider nicht ganz so. Fakt ist, dass das Kontrastprinzip eine Rolle spielt in allen beschriebenen Auswahlprozessen. Dies hat mit den vorgenommenen Bewertungen zu tun – und alle Bewertungen gehen über die reine Qualifikation hinaus.
Wie gehen wir mit all den „Verzerrungen“ und „Filtern“ um?
(1) Einsetzen von Tests und Übungen zwecks Bewusstseinsbildung
Auch Ana Marija Krstić hat in einer sehr rezenten Masterarbeit einige Punkte angeführt, wie man mit „Unconscious Bias“ in der Personalauswahl umgehen könnte. Der wichtigste Schritt folgt wohl der allgemeinen Redensart: „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“.
Das Anerkennen der eigenen Vorurteile und Verzerrungen ist ein immens wichtiger Schritt um das nötige Bewusstsein und auch die notwendige Sorgfalt im Recruitingprozess zu erlangen. Krstić empfielt daher den Einsatz des auf der Harvard-Universität entwickelten „Implicit Association Test“. Der Test ist kostenlos und wird online durchgeführt. Es handelt sich im Wesentlichen um einen Test, der Assoziationen abfragt. So können in bestimmten thematischen Bereichen – etwa Gender und Beruf – Vorurteile aufgedeckt werden. Der Test ist zwar nicht unumstritten, da Assoziationen auch bewusst gesteuert werden können, er bietet jedoch eine Möglichkeit sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Für jene, die das als zu kompliziert erachten, bietet Dr. Eva Voß eine kleine Übung, die sich schnell und auch ohne PC-Unterstützung realisieren lässt… Bias basieren für Voß auf einem „Zusammenspiel von Beobachtung, Interpretation und Bewertung – also Mechanismen, die ebenfalls größtenteils unbewusst ablaufen.“ Wir sehen Dinge und Personen nicht nur einfach, wie nehmen diese nicht nur wahr, sondern wir bewerten und setzen auf Interpretationen. Nun zur Übung:
„Lassen Sie eine Gruppe von Menschen gemeinsam aus dem Fenster schauen. Nach zwei bis drei Minuten bitten Sie jeden, das jeweils Gesehene den anderen Mitgliedern der Gruppe zu beschreiben. Sie werden feststellen: Jede oder jeder von ihnen hat etwas anderes gesehen, beobachtet und wahrgenommen.“ (Quelle). Sie werden sehen, dass die Teilnehmer*innen sehr schnell den Bereich der reinen Beschreibung verlassen und in die Wertung und Interpretation hinein gehen. Anders formuliert: Von „Ich sehe ein Gebäude“ ist es nur ein kleiner Schritt zu einer ersten Interpretation („Es sieht sehr gepflegt aus und gehört sicherlich wohlhabenden Menschen“) um dann im Bereich Annahmen zu landen („Naja, reiche Leute zeigen immer gerne, was sie haben“). Nicht umsonst kennen Trainer*innen und Coachs den Satz: „Beschreiben und nicht bewerten“ mit einiger Sicherheit.
(2) Klare Diversity-Strategie im Recruiting ist ein Muss
Eva Voß ist in diesem Punkt sehr klar:
„Das offizielle Bekenntnis einer Firmenleitung zu mehr Vielfalt ist ein wichtiges Signal nach innen wie außen. Denn ohne die intensive Unterstützung der Top-Führungsebene lässt sich das Thema kaum in die Organisation integrieren oder beim Kunden glaubwürdig erscheinen. Allerdings sollte man sich nicht in die berühmte „eigene Tasche lügen“, wenn man annimmt,
dass das Bekenntnis allein schon ein flächendeckendes Umdenken pro Diversity mit sich bringt.“ (Quelle)
Das Bekenntnis zu einer Diversitätsstrategie ist die eine Sache, eine stringente Umsetzung eine ganz andere. Daher sollte die Diversitätsstrategie auch im Verantwortungsbereich der Geschäftsführung liegen. Hierzu sind strategische Maßnahmen notwendig. Das Recruiting muss als Abteilung aufgewertet werden. Stellenangebote sollen geschlechtsneutral und sachbezogen ausgeschrieben werden. Ein transparenter, reflexionsorientierter Recruitingprozess ist das Um und Auf. Um dies zu gewährleisten sollte man darüber nachdenken und regelmäßige Audits vornehmen zu lassen.
(3) Unconscious-Bias-Training für das Recruiting-Team
Es wurde bereits in ähnlicher Form gesagt: Alles beginnt mit dem richtigen Bewusstsein. „Unconscious Bias“-Trainings sind ein richtiger und wichtiger Schritt mehr Wissen und Bewusstsein zum Thema zu erzeugen. Diese sollten jedoch auch als Dauerveranstaltung und nicht als einmaliges Seminar abgehalten werden, da sonst die Lerneffekte vernachlässigbar sind. Dabei ist es wichtig konkrete und praktische Beispiele zu setzen. Studien zeigen, dass solche Trainings zu messbaren Verbesserungen führen: Teilnehmende berichten von gesteigertem Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Thema und planen konkrete Maßnahmen zur Veränderung von Rekrutierungs- und Beförderungsprozessen. Letztendlich sollten solche Trainings für die gesamte Belegschaft eine Rolle spielen.
(4) Diverse Zusammensetzung des Recruiting-Teams
Ein vielfältig zusammengesetztes Auswahlteam ist ein wichtiges Zeichen an alle involvierten Parteien. Wenn Kandidat*innen auf ein diverses Recruiting-Team treffen, sehen sie, dass Vielfalt im Unternehmen tatsächlich gelebt wird und nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Ein diverses Recruiting-Team ist also auch eine besondere Visitenkarte des Unternehmens. Diversität bezieht sich aber auch auf die Funktionen der anwesenden Personen etwa beim Vorstellungsgespräch. Die Einbeziehung der zukünftigen Führungskraft ist dabei besonders wichtig – diese kann am besten erklären, welche Aufgaben auf die neue Person warten und wie das Team arbeitet. Gleichzeitig können sich beide Seiten bereits kennenlernen. Das nimmt schon unseren nächsten Punkt vorweg.
(5) Einsatz von Personas statt klassischen Ausschreibungen
Das Persona-Konzept wurde in den 1990er Jahren von Alan Cooper für das Marketing und die Produktentwicklung eingeführt. Es beschreibt fiktive, jedoch datenbasierte Charaktere, die typische Nutzer*innengruppen repräsentieren. Das Prinzip kann auch auf den Personalbereich umfunktioniert werden. Im Recruiting dienen Personas dazu (a) in Alternativen zu denken (b) den Fokus auf relevante Kompetenzen zu legen (c) Bias und Vorurteile sichtbar zu machen. Illustrieren wir es an einem Beispiel und gehen von einer „klassischen“ Controller-Stereotyp-Rolle aus…
Die stereotype Controllerrolle wird oft unbewusst wie folgt imaginiert: (Sollte ich unrecht haben, bitte ich um entsprechende Infos in die Kommentare).
- Männlich, 35-50 Jahre alt
- Wirtschaftsstudium
- Penibel organisiert, introvertiert, detailorientiert
- Bevorzugt etablierte Prozesse und Stabilität
- Kommuniziert primär schriftlich und faktenbasiert
- Linearer Karriereweg innerhalb der Finanzabteilung
Diese stereotype Vorstellung benachteiligt Kandidat*innen, die nicht diesem Bild entsprechen, obwohl sie möglicherweise hervorragende Controller*innen wären.
Alternative Personas für das Rechnungswesen
Persona 1: „Dragan – Der strukturierte Analyst“.
Fachliche Qualifikationen: Fundierte Kenntnisse in doppelter Buchführung und SAP FI/CO, Vertrautheit mit aktuellen Rechnungslegungsstandards
Verhaltenskompetenzen: Systematische Analyse von Finanzdaten, Präzise Dokumentation und Fristeneinhaltung
Persona 2: „Sarah – Die kommunikative Schnittstellenmanagerin“
Fachliche Qualifikationen: Solide Grundkenntnisse der Buchführung, Kompetenz in der Erstellung verständlicher Finanzberichte
Verhaltenskompetenzen: Effektive Kommunikation mit internen Stakeholdern, Übersetzung komplexer Finanzdaten für Nicht-Finanzexperten
Persona 3: „Kim – Prozessoptimierer*in“
Fachliche Qualifikationen: Kenntnisse in Prozessoptimierung und Automatisierungstools, Erfahrung mit Digitalisierungsprojekten im Finanzbereich
Verhaltenskompetenzen: Identifizierung von Effizienzpotenzialen, Implementierung von Verbesserungen in Arbeitsabläufen
Praktische Umsetzung
Diese Personas fließen alle in das Stellenprofil und das daraus entstehende Inserat ein. Dadurch vermeidet man „zu eng“ und zu eindimensional zu sein und vermeidet mit Sicherheit das eine oder andere Bias. Die Vorteile liegen auf der Hand: Verschiedene Erfolgswege sind möglich. Es gibt mehr als den einen etablierten Weg.
Der Fokus liegt auch eindeutig auf jobrelevanten Kompetenzen und weniger auf Persönlichkeitsmerkmalen. Vor allem wird das „similar-to-me bias“ oder der „Kontrast-Effekt“ umgangen, da man mehrere Optionen skizziert. Nicht zuletzt kann der Bewerber*innenpool erweitert werden. Es geht jedoch nicht darum die gewünschten Kompetenzen zu addieren und alle in ein Inserat zu werfen. Auf diese Weise schaffen Sie schnell das Profil eines Wunderwuzzis, das man nicht besetzen kann.
(6) Mehraugenprinzip anwenden – oder Do it together (DIT)
Das Vier-Augen-Prinzip oder Mehraugenprinzip ist ein bewährter Ansatz, um Voreingenommenheit zu reduzieren. Dabei werden Entscheidungen, insbesondere bei der Personalauswahl, stets von mindestens zwei Personen gemeinsam getroffen.
Bei Bewerbungsgesprächen ist es sinnvoll, diverse Personen am Prozess zu beteiligen. Dies trägt dazu bei, Chancengleichheit zu gewährleisten und unbewusste Vorurteile zu reduzieren. Nach dem Gespräch bewerten alle Beteiligten die Kandidat*innen zunächst unabhängig voneinander, bevor sie ihre Einschätzungen austauschen. Durch diese gemeinsame Entscheidungsfindung wird die Objektivität erhöht und eine gegenseitige Überprüfung der Einschätzungen ermöglicht.
Ich musste öfters Massenauswahlverfahren mit Testverfahren und strukturierten Interviews durchführen (meist im Kontext von Ausbildungsangeboten mit beschränkter Platzwahl). Bei diesen Themen ging es ebenso um die Eignung für länger dauernde Ausbildungen, als auch um den persönlichen Fit und die Motivation. Ich kann nur bestätigen, dass es sehr viel spannender ist, wenn jede Kandidatur zu zweit oder zu dritt nach dem Einstimmigkeitsprinzip bespricht. Es führt zu besseren Ergebnissen – dauert aber länger.
(7) Anonymisierte Bewerbungsverfahren einführen
Bereits erste Informationen über Bewerber*innen können zu unbewussten Vorurteilen führen. Demografische Merkmale wie Name, Alter, Geschlecht oder Herkunft, aber auch Angaben zu Ausbildung und Freizeitaktivitäten können die objektive Beurteilung der fachlichen Qualifikation beeinflussen. Nicht zuletzt ist das Foto ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Bei anonymisierten Bewerbungsverfahren werden mittels standardisierter Formulare alle persönlichen Merkmale aus den Unterlagen entfernt. Der Fokus liegt ausschließlich auf den relevanten Qualifikationen und Kompetenzen. Alternativ können die Bewerbungen von einer Person, die nichts mit dem Auswahlprozess zu tun hat „geschwärzt“, werden.
Studien zeigen, dass dieser Ansatz insbesondere Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund bessere Chancen auf ein Vorstellungsgespräch eröffnet.
Exkurs: Die österreichische Wirtschaftskammer ist kein Fan von anonymisierten Bewerbungen
Die WKO attestiert zwar das ungenützte Potenzial von Kandidat*innen mit Migrationsbiographie und die Vorteile von Vielfalt, wehrt sich jedoch deutlich gegen die Einführung von anonymisierten Bewerbungsverfahren. Die Begründung ist – laut WKO – so einfach, wie konkret: Anonyme Bewerbungsverfahren würden keinen Mehrwert bringen und sie würden jegliche Individualität einschränken.
Jene Studien des IHS und der Antidiskriminierungsstelle in Deutschland, auf die sich das WKO hier vermutlich bezieht, kommen nicht zu diesem explizit klaren Schluss (vergleiche: IHS, 2013 und IZA Bericht Deutschland 2012.) O-Ton: Wirtschaftskammer Österreich
„Die Idee von anonymen Bewerbungen ist es, benachteiligten Gruppen wie MigrantInnen höhere Chancen für eine Anstellung zu ermöglichen. Allerdings belegen Studien (u.a. IHS), dass dieses Ziel nicht erreicht wird. Auch ein Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle in Deutschland zu anonymen Bewerbungen zeigt, dass Unternehmen diese Praxis nicht fortführen werden, weil sie keinen Mehrwert gebracht hat. Ganz im Gegenteil: Interessante Lebensläufe oder Personen sind nicht mehr aufgefallen, es konnte kein zusätzliches Bewerberpotenzial erschlossen werden und auch der Anteil an MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund ist dadurch nicht gestiegen.
Anonymisierte Bewerbungen beschränken die Individualität
Gerade eine Bewerbung gibt einer Person die Möglichkeit, sich selbst zu präsentieren. Auch die individuellen Stärken, die sich durch den persönlichen Hintergrund ergeben, spielen dabei eine wesentliche Rolle, um sich besser „verkaufen“ zu können. Durch eine anonyme Bewerbung fällt dieser Aspekt in der ersten Auswahl komplett weg und alle BewerberInnen werden auf einen Rumpf reduziert, der keine persönlichen Merkmale mehr zulässt. Allein aus den Infos zu Sprachkompetenzen oder früheren Arbeitgebern können Personalisten Faktoren wie Herkunft und Alter genauso herauslesen. Dies müsste – denkt man die anonyme Bewerbung konsequent zu Ende – ebenso weggelassen werden; aber was bleibt dann noch übrig?“ (Quelle)
(8) Blind Hiring oder das „Vorstellungsgespräch hinter dem Vorhang“…
Dieser Ansatz übersteigt jenen der anonymisierten Bewerbungsunterlagen, da der „reality Check“ namens Gespräch oder Präsentation auch in anonymisierter Form abgehalten wird. Ziel ist es, unbewusste Vorurteile in allen Phasen des Auswahlprozesses zu minimieren. Heute ist eine Durchführung eines anonymisierten Bewerbungsgesprächs relativ leicht, da viele Termine online ablaufen. Der*die Kandidat*in muss einfach nur die Kamera abschalten. Noch besser wären erste Gespräche via Chat, da es so auch leichter ist einen strukturierten Fragebogen beizubehalten, schriftliche Antworten zu generieren und die Vergleichbarkeit zu erhöhen.
Besonders gute Erfahrungen mit dieser Methode machen Orchester weltweit, indem Sie Kandidat*innen hinter einem Vorgang vorspielen lassen. Somit kann sich die auswählende Jury rein auf das Musikalische konzentrieren.
Allerdings wird es notwendig sein auch einmal ein persönliches Gespräch von „Angesicht zu Angesicht“ zu führen, da man ja auch Informationen wie Stimmführung, Auftreten, Körpersprache in die Bewertung einfließen lassen soll und will. Diese eher soften Kriterien sollten jedoch erst spät im Prozess einfließen.
(9) Strukturierte Interviews durchführen
Ein strukturiertes Einstellungsinterview basiert auf einem vorab festgelegten Interviewleitfaden, der von allen beteiligten Personalverantwortlichen verwendet wird. Allen Bewerber*innen werden die gleichen Fragen in der gleichen Reihenfolge gestellt.
Die Interviewer*innen machen sich während des Gesprächs Notizen und bewerten anschließend unabhängig voneinander die Antworten anhand einer Bewertungsskala. Erst nachdem alle ihre Bewertungen schriftlich festgehalten haben, tauschen sie sich über ihre Einschätzungen aus. Alternativ kann man diesen Prozess auch durch einen „anonymisierten“ Chat abkürzen indem die Antworten schriftlich abgegeben werden. Dies spart in gewisser Weise Zeit und macht Ergebnisse vergleichbarer.
Durch den standardisierten Ablauf können typische Beurteilungsfehler wie der Mini-me-Effekt (die Bevorzugung ähnlicher Kandidaten), der Kontrast-Effekt (der Vergleich mit anderen Bewerber*innen statt einer objektiven Beurteilung) deutlich minimiert werden.
(10) KI-gestützte Systeme bewusst einsetzen
Künstliche Intelligenz kann den Rekrutierungsprozess beschleunigen und die Vorauswahl potenziell objektiver gestalten. KI-Systeme können Lebensläufe automatisiert nach vordefinierten Kriterien wie Qualifikationen, Berufserfahrung und Kompetenzen filtern. Allerdings gibt es einige Risiken. Auch die KI verfügt über Bias, da sie mit Daten gefüttert wurde, die auch nicht unbedingt immer ganz objektiv sind.
Kristic erwähnt in ihrer Arbeit ein bekanntes Beispiel aus dem Jahr 2018 als das Recruiting-Tool von Amazon, Bewerbungen von Frauen systematisch benachteiligte, da es auf Basis historischer, männerdominierter Einstellungsdaten trainiert, wurde. Auch das österreichische Arbeitsmarktservice setzte auf KI. Allerdings gab es auch hier Kritik. Der AMS-Berufsinformat, der auf ChatGPT basiert, lieferte berufsorientierungswillige Nutzer*innen klischeehafte Antworten. So wurden Frauen Berufe empfohlen, die tendenziell Frauen zugeschrieben werden uam.
Ein zweiter Fall war durchaus heikler. Das Arbeitsmarktchancen-Assistenzsystem (AMAS) errechnete via Algorithmus die Jobvermittlungschancen der Kund*innen des AMS. Es sollte zu einer Priorisierung von Arbeitssuchenden kommen um schnellere Vermittlungsergebnisse zu erzielen. Allerdings könnten solche automatisierten Priorisierungen dem Gedanken der DSGVO widersprechen. Die letzten Meldungen zu diesem Thema stammen aus dem Jahr 2024 – eine gerichtliche Prüfung auf Höchstebene stand an.
Empfohlen wird ein hybrider Ansatz: KI-Systeme sollten als unterstützendes Werkzeug eingesetzt werden, während die endgültige Entscheidung weiterhin von Menschen getroffen wird. Zudem ist eine regelmäßige Überprüfung der Systeme auf mögliche Diskriminierungseffekte unerlässlich.
Fazit: Der Weg zu fairen Recruitingprozessen
Die Überwindung unbewusster Vorurteile im Recruiting ist ein fortlaufender Prozess, der Engagement auf allen Ebenen eines Unternehmens erfordert. Durch die Kombination verschiedener Maßnahmen – von Bias-Trainings über strukturierte Interviews bis hin zu technologischen Lösungen – können Organisationen ihre Auswahlprozesse schrittweise fairer gestalten.
Und die Ergebnisse geben den Unternehmen recht: Andrea Brinkmann berichtet in Ihrer These über Unternehmen wie Scania, L’Oréal und EY, die mit solchen Verfahren arbeiten.
Der Lohn dieser Bemühungen sind nicht nur vielfältigere Teams, sondern auch bessere Geschäftsergebnisse, mehr Innovation und eine stärkere Kundenorientierung. In Zeiten der schwierigen Personalsuche und vor allem der Personalbindung kann es sich kein Unternehmen leisten, Talente aufgrund unbewusster Vorurteile zu übersehen.
Auch wenn einige Studien, etwa im Bereich anonymisierte Bewerbungen, keine eindeutigen Ergebnisse gebracht haben und oft die vermehrten Kosten gegen den Nutzen in Rechnung stellen, wird die grundsätzliche Beschäftigung mit dem Thema Diversität und diverses Recruitung durch aus positiv gesehen. Nicht zu unterschätzen sind die Auswirkungen im Bereich Employer Branding und Attraktivierung des beschäftigenden Unternehmens.
Vor allem sollten Recruiter*innen bedenken: In vielen Fällen arbeiten nicht Sie, sondern die Kolleg*innen aus anderen Abteilungen, unmittelbar mit dem oder der einzustellenden Kandidat*in zusammen. Als Recruiter*in jemanden abzusagen, weil er oder sie nicht meinen „Vortstellungen“ entspricht, könnte sich als Fehler erweisen…
Quellen und weiterführende Lektüre:
- Dr. Eva Voß. Unconscious Bias im Recruiting – Wie sich vor allem bei Personalprozessen die Stereotypenfalle umgehen lässt.
- Dominik Josten. Unconscious Bias. Alles, was Sie über Unconscious Bias in HR wissen müssen.
- Andrea Brinkmann. Unconscious Bias reduzieren und bessere Personal-Entscheidungen treffen. MASTER THESIS zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, März 2022
- Ana Marija Krstić: Der Zusammenhang des äußeren Erscheinungsbilds auf berufliche Chancen – eine qualitative Untersuchung von Maßnahmen zur Minimierung visueller Vorurteile im Rekrutierungsprozess, Wiener Neustadt, 2025.