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Am 9. August veröffentlichte die JOBBERIE – Jobs und mehr den Beitrag „Wie eine familiäre Arbeitsatmosphäre den Job verbessert? Eine Erörterung.“ Hier folgt nun der zweite Teil. Wir blicken auf die negativen Seiten einer allzu familiären Arbeitsatmosphäre.
Beginnen wir mit einer etwas anderen Definition
Sebastian Maas übersetzt in seinem Artikel „Sprechen Sie arbeitgeberisch“ das Thema „familiäres Umfeld“ im Job wie folgt: „Sie würden sich freuen, uns nur zweimal im Jahr zu sehen…“ und verweist ironisch auf den Umstand, dass man Familienmitgliedern oft leichter aus dem Weg kann als den Kolleg*innen, die man tagtäglich sieht.
Allerdings ist das Thema für den HR-Bereich relativ wichtig. Zu viele Inserate arbeiten mit Formulierungen wie: „Langfristige Anstellung in einem familiären Unternehmen“, „ein familiäres Betriebsklima“, „ein kollegiales, familiär-freundschaftliches Miteinander“.
Arbeitgeber:innen und Personalabteilungen sollten vorsichtig mit einem inflationären Einsatz dieser Begrifflichkeit in ihren Stellenangeboten, auf Karriereseiten und in Onboarding-Phasen sein… Warum? Das schauen wir uns anhand einiger Statements und Studien an.
„Wir sind eine große Familie“ – Gehen Sie als Unternehmen sehr sparsam mit diesem Satz um!
Wichtig ist zunächst einmal eine Unterscheidung. Ein Unternehmen, das hauptsächlich aus Freund*innen und Familienmitgliedern besteht, ist natürlich „familiär“ geprägt. Die Grenzen zwischen Familie und Mitarbeiter*innen sind fließend. Solche Unternehmen sind hier nicht gemeint – auch reden wir nicht von Unternehmen, die besonders familienfreundlich sind und eine hohe Vereinbarkeit von Job und Privatleben gewährleisten.
Neue Mitarbeiter:innen, die keine „friends and family“ sind, haben andere Erwartungshaltungen an den Job. Diese Mitarbeiter:innen investieren nur einen Teil ihrer Persönlichkeit in den neuen Job und das Unternehmen. Der Unternehmer Lars Vollmer geht in seinem intrinsify-Beitrag auf Youtube näher auf diesen Umstand ein:
Unternehmen sind eben keine „Blutfamilie“. Sie sind eine Gemeinschaft, ’ne Leistungsgemeinschaft, eine Zweckgemeinschaft, könnte man noch etwas nüchterner sagen und das führt dazu, dass der Job immer nur ein Ausschnitt aus der gesamten Person adressiert und ist nie als ganzer Mensch dabei.
Also Beispiel: Der eine beginnt als Programmierer in einer IT-Entwicklung und vielleicht sein bisher unerfüllter Kinderwunsch darf jetzt seine Privatsache bleiben. Er ist für das Unternehmen sozusagen ein Programmierer und nicht der ganze Mensch.
Quelle: Lars Vollmer. Vorsicht vor einer familiären Unternehmenskultur – ein Weihnachtsgruß (siehe Video weiter unten)
Anders formuliert: Mitarbeitende übernehmen eine ganz spezielle Rolle, die man nicht mit dem eigentlichen Menschen verwechseln sollte. Daher ist der Begriff „Rolle“, der sehr stark in der HR-Wirtschaft benutzt wird, ein sehr präzises Framing und zeigt deutlich, wie die meisten Menschen ihren Job auffassen.
Warum die Arbeitsfamilie die eigenen Familie nie ersetzen kann…
Samira Helbig, Head of People bei PayFit Deutschland, führt in einem Kommentar auf t3n mehrere Argumente an, die zeigen wieso der Slogan „Wir sind wie eine große Familie“ nicht stimmen kann. HR-Expert*innen sollten folgende Aspekte beachten, bevor sie eine „familiäre“ Employer-Branding-Strategie entwerfen.
- Echte Familien verfolgen keine wirtschaftlichen Ziele: Während Unternehmen klare Quartalsziele, Gewinnsteigerung und strategische Ziele verfolgen, ist eine Familie ein konstantes Konstrukt ohne Geschäftsziele. Mit einer Ausnahme: Die Familie und das Unternehmen sind identisch. Familien existieren als emotionale Verbindung und gegenseitige Unterstützung. Daher unterscheidet Lars Vollmer auch mit dem Begriff „Blutfamilie“, der durchaus problematisch ist – vor allem im Zeitalter von Patch-Work-Familien.
- Unternehmen bieten begrenzte Sicherheit in Krisen. Während Familien in schweren Zeiten meistens einen Rückhalt bieten, müssen Unternehmen in Krisenzeiten wirtschaftliche Entscheidungen zu Lasten der Mitarbeitenden treffen (Kurzarbeit oder Kündigungen zum Überleben der Firma).
- Kündigungen fühlen sich wie Trennungen an. Wer sich emotional auf die „Unternehmensfamilie“ eingelassen hat, erlebt eine Kündigung doppelt schmerzhaft: Berufliche und emotionale Bindung werden gleichzeitig gekappt.
- Der Familienbegriff erschwert konstruktive Kritik. Emotionale Distanz ist wichtig für objektive Bewertungen. Der gelebte oder eingeforderte Familienbegriff kann dazu führen, dass Mitarbeiter:innen sich scheuen, berechtigte Kritik zu äußern, was Probleme ungelöst lässt. Auf diesen Punkt werden wir noch einmal zurückkommen.
- Familien „bewerten“ sich nicht gegenseitig. In Familien unterstützen wir tendenziell eher ohne Bewertung. Im Unternehmen sind Feedback und Leistungsbeurteilungen jedoch essentiell für Entwicklung und Fortschritt.
- Unternehmenskultur ist nicht gleich Familienleben: Trotz familiärer Atmosphäre im Büro ist professionelle Distanz wichtig. Grenzen zwischen privaten und beruflichen Beziehungen sollten auch bei guter Unternehmenskultur bewusst bleiben.
- Ergänzen möchte ich auch das Thema Sippenhaftung. Der Spruch des österreichischen Ex-Kanzlers Sebastian Kurz „Du bist Familie“ und „Kriegst eh alles was du willst“ ist bereits legendär.
Familiäres Umfeld = weniger Leistung?
Sabine Hommelhoff and Davina Götz von der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg veröffentlichten eine Studie unter dem Titel: „We Are All Friends and Family Here! How Jobseekers React to Communal Job Advertisements“ im Jahr 2022.
Die Autorinnen wollten wissen, wie Arbeitssuchende unterschiedlichen Alters auf das Versprechen von freundschaftlichen respektive familiären Beziehungen am Arbeitsplatz reagier(t)en.
Zwei Experimente (N = 292 und N = 343) zeigten, dass gemeinschaftsorientierte Stellenanzeigen (die Autorinnen benutzen den Begriff „communal job advertisments“) im Vergleich zu konventionellen Stellenangeboten dazu führten, dass potenzielle Bewerber:innen von niedrigeren Leistungsstandards in den jeweiligen Unternehmen ausgingen.
Es zeigte sich auch, dass ältere Bewerbende generell höhere Leistungsstandards im Unternehmen erwarteten. (…) Für die Praxis ließe sich – so die Studienautorinnen – „vorsichtig ableiten, dass die Verwendung von gemeinschaftsorientierten Stellenanzeigen möglicherweise nicht im besten Interesse hoher Leistungsstandards im Unternehmen ist.“
Eine weitere Erkenntnis: Wenn Stellenanzeigen eine familiäre oder freundschaftliche Betriebskultur oder Arbeitsatmosphäre in den Vordergrund stellen, hat dies wenig Einfluss auf potenzielle Kandidat:innen sich auf die Stelle zu bewerben (der Umkehrschluss träfe genauso zu). Hommelhoff und Götz suggerieren – wie bereits gesagt – dass Bewerber:innen bei familiären oder freundlicher Unternehmenskultur von einem niedrigeren Leistungsstandard ausgehen.
Tipp: Vermeiden Sie das berühmte „familiäre Umfeld“ als „Benefit“ auf Ihren Karriereseiten oder in ihren Stellenanzeigen, vor allem dann, wenn ehemalige Bewerber:innen und Mitarbeiter:innen negative Feedbacks auf „kununu“ und Co. hinterlassen. Auch ein Gegensteuern mit einem „Great Place to Work“-Logo kommt bei der eigenen Belegschaft nicht immer gut an, wie einige reddit-Diskussionen zeigen:
kununu und „Great place to work“
Ein weiteres Thema, das gut in den Kontext passt, sind sogenannte Arbeitsbewertungsplattformen. Sie werden immer wichtiger und sind im Employer Branding respektive für Bewerber:innen eine wichtige Quelle um Referenzen einzuholen.
Sophia von Rundstedt hat im Rahmen ihrer Outplacement- und Karriereberatung eine repräsentative Umfrage mit 1.000 Berufstätigen bereits im Jahr 2018 durchgeführt. Die Ergebnisse sind zwar schon etwas alt, aber dennoch sehr klar: Bewerbende nutzen Bewertungsportale wie Kununu vor einer Bewerbung und holen sich so schnell Referenzen über das Unternehmen, das interessant erscheint.
Kernpunkte der Studie sind:
- 41% der Befragten schauen vor einer Bewerbung zuerst auf Bewertungsportale wie Kununu, bei jungen Menschen (18-29 Jahre) sind es sogar 52%.
- Die Bewerber:innen interessieren sich besonders für Kolleg:innenzusammenhalt, Sozialleistungen und Gleichberechtigung.
- Jede:r Zweite würde sich bei schlechten Bewertungen gar nicht erst bewerben.
- Allerdings: Nur 22% finden Informationen von Kununu glaubhafter als die von Unternehmensvertreter:innen; bei Bewerber:innen unter 33 Jahren sind es 33%.
- Zum Schluss: Positive und authentische Mitarbeiter:innenbewertungen können nicht nur Bewerber:innen anziehen, sondern auch die Bindung der Mitarbeitenden erhöhen.
Auch wenn 22 Prozent der Befragten sehr wohl einschätzen können, wie derartige Portale funktionieren, zeigt es, dass eine einheitliche und passende Unternehmenskultur entscheidend ist.
Eine andere Möglichkeit ist es natürlich auf „Great Place to Work“-Siegel und ähnliches zurück zu greifen. In meinem Angestelltendasein wurde ich bereits öfters dazu aufgerufen, an internen Befragungen teilzunehmen – und dies mehrfach. Unternehmen zahlen dafür, dass sie bewertet werden. Allerdings erfolgt eine Bewerbung nur dann, wenn wenn 64,5 Prozent der anonymisierten Umfragebögen retourniert werden. Im Gegensatz zu den kununu-Bewertungen werden die „Great Place to Work“-Bewertungen zwiespältig gesehen. Eine gute Quelle ist reddit.
Insgesamt sollten Unternehmen Bewertungen ernst nehmen und entsprechend bearbeiten. Ein Gegensteuern durch überbordende Stellenangebote und „Great Place to Work“-Kampagnen erscheint wenig sinnvoll und sollte vermieden werden.
Am Beispiel Theater: Wenn die Arbeitsfamilie zur „Wagenburg“ wird…
Der Podcaster und Kulturmanager Florian Burstein bringt in einem Podcast rund um den scheidenden, streitbaren Direktor des Theaters in der Josefstadt (Herbert Föttinger) die Metapher der Theaterfamilie oder der familiären Atmosphäre als Schutzschild. (vgl. hierzu: Podcast „Die Dunkelkammer“ #140 – der Fall Föttinger.)
Die „Arbeitsfamilie“ wird – laut Burstein – gerne bemüht, um gegen eine etwaige Gefahr von außen zu mobilisieren und die „Schotten dicht“ zu machen. Es geht darum die Mitarbeiter:innen auf Linie zu bringen und nach außen hin eine Wagenburg zu bilden. Dabei spielt der Begriff der „Loyalität“ auch eine wichtige Rolle.
Ähnliches weiß die Regisseurin Cornelia Rainer zu berichten. Sie verweist auf die problematischen Loyalitäten, die durch den falschen Familienbegriff entstehen können. Hierarchien würden verdeckt werden und es käme zu Machtmissbrauch. (Podcast Bühneneingang #25 – Inszenierung von Macht und Machtmissbrauch)
„Oder in unserer Branche der Begriff der Theaterfamilie, Berufsfamilie. Der Begriff an und für sich ist völlig paradox, weil eine Familie vermittelt mir sofort den Eindruck, dass alle gleichwertig sind. Aber es gibt Hierarchien. Die gibt es. Es gibt Entscheidungsträger. Und gerade so in Familienbetrieben oder eben in der Theaterfamilie, da werden dann auch Loyalitäten außerhalb der Berufsseite, ähm, dann plötzlich sind dann gefragt. Kannst Du das machen und das und das machen? Das führt dann oft, muss nicht, zur emotionalen Ausbeutung. Das führt oft zu einer wahnsinnigen Überforderung.“
Podcast: Bühneneingang – Kultur von Innen. #25 Inszenierung von Macht als Selbstschutz – mit Cornelia Rainer
Das Thema Jobfamilie und Loyalität wird auch vom bereits erwähnten Lars Vollmer erwähnt:
Einen Vorteil ohne Frage: der Vorteil ist Identifikation. Eine familiäre Kultur bindet die Menschen, die sich ihrer ausliefern wollen. Sie erzeugen Stabilität auch in turbulenten Zeiten. Man bleibt halt beisammen bei dem familiären Unternehmen. Das macht auch Sekten und Sinngemeinschaften im Allgemeinen so attraktiv es gibt eine hohe Loyalität.
Gerade die Nivellierung der Hierarchien, die durch den „familiäre Umfeld“-Ton und das vorherrschende „Du“ gerne erzeugt wird, kann zum Boomerang werden. Wenn es gut läuft, ist alles nett und angenehm. Sollte es jedoch weniger gut laufen, dann passiert gerne folgendes: Der gelebte Familientopos erschwert einen offene Auseinandersetzung mit Problemen und Fehlern. Gleichzeitig wird der Ethos der „Selbstwirksamkeit“ beschworen.
In der Arbeitsfamilie werden Dinge „unter sich ausgemacht“ und gerne auf kompetente Hilfe von außen verzichtet. Das kann sogar soweit gehen, dass die postulierte „familiäre Atmosphäre“ das Festlegen von Prozessen und Prozeduren, die als objektive Richtschnur dient, erschwert. Nicht wenige Unternehmen vertrauen auf die familiäre Unternehmenskultur um etwa die Gründung eines Betriebsrates zu verhindern. Die Familie regelt das schon selbst.
Wagenburg anders: „No egos. Only amigos.“ Wenn die Stimmung „übergriffig“ wird
Unternehmen inszenieren sich gerne als „idealen Arbeitsplatz“. Das beginnt schon in den Stellenanzeigen. Auch auf LinkedIn kann man sich da einiges ansehe. Wobei natürlich zu sagen ist: Das bewusste Fördern eines gemeinschaftlichen Gefühls ist an und für sich nichts Schlechtes. Die meisten Arbeitenden verbringen schließlich den produktivsten Teil des Tages in einem Umfeld, das man nur bedingt aussuchen kann.
Daher sind ein gutes Auskommen und ein freundschaftlicher Umgang untereinander wichtig, um den Arbeitstag positiv zu gestalten. Allerdings sollte dies nicht von oben herab verordnet werden. Die freie Journalistin Lena Sharma weist in ihrem Beitrag für Momentum.at darauf hin, dass eine allzu familiäre Unternehmenskultur dazu führen kann, dass persönliche Grenzen übertreten werden. Sie benutzt bereits im Titel ihres Artikels den Begriff „übergriffig“. Übrigens finden wir diesen Begriff auch bei Lars Vollmer in seinem sehr ähnlichen Kontext.
Lena Sharma im Original auf Moment.at :
„Werden gute Laune und ein falscher Zusammenhalt verordnet, dann werden Konflikte verdrängt und Kritik im Keim erstickt. Probleme im Unternehmen werden so auch nach unten verlagert. Auch wenn Probleme von der Struktur oder von Führungspersonen ausgehen, werden sie zum individuellen Problem des richtigen oder falschen „Mindsets“ gedeutet. Und je stärker Menschen individuell verantwortlich gemacht werden, umso schwieriger wird es, offen zu kommunizieren und solidarisch gegen Probleme im Unternehmen vorzugehen.“
Lena Sharma. Wir sind eine Familie: Wenn Unternehmenskultur übergriffig wird.
Fehlende Prozesse
Es geht jedoch noch tiefer. Bei Krisen oder Schwierigkeiten kann eine gelebte familiäre Unternehmenskultur oder Atmosphäre dazu führen, dass grundlegende organisatorische Schwächen übersehen werden. Loyalität kann auch blind machen. Auch hier möchte ich Lars Vollmer zitieren. Das Zitat schließt sich an das oben angeführte nahtlos an:
Es gibt eine hohe Loyalität. Der Nachteil ist aber, wenn sich das Unternehmen mal wandeln muss, weil sich die Umwelt ändert, (…) also wenn sich Geschäftsmodelle ändern müssen, wenn sich die Organisation umbauen muss, wenn vielleicht der Firmensitz verlegt werden muss, Produkte komplett ad acta und neue erschaffen werden müssen, wenn sogar vielleicht mal Entlassungen ausgesprochen werden müssen, ja dann kann der ideologische Anspruch einer Familie, also der Anspruch der Zusammengehörigkeit, der Harmonie zu enormen Konflikten führen.
Und damit werden solche Unternehmen typischerweise veränderungsträge. Sie sind schlechter darin sich neuen Realitäten der Umwelt anzupassen, weil sie immer wieder auf den eigentlichen ideologischen Kern – in diesem Falle eben den familiären Kern – referenzieren.
Implementieren einer familiären Arbeitsatmosphäre ist schwierig – und kommt auch nicht immer bei der Basis an.
Die positiven Aspekte sind unbestritten. Aber das Verordnen von oben funktioniert nich so einfach. Das erklärt auch den Widerspruch, den Angela-Maria Weltler festmachen konnte. In ihrer Diplomarbeit hält sie fest, dass „es […] einen positiven Zusammenhang zwischen familiärer Atmosphäre am Arbeitsplatz und Arbeitszufriedenheit auf Individualebene [gibt].“ Die Diplomandin untersucht in ihrer Arbeit den „Einfluss von Personalklimafaktoren auf Mitarbeiter/innen und leistungsbezogene Resultate in Organisationen“ Das familiäre Umfeld ist einer dieser Personalklimafaktoren. Die Auswertung von 320 validierte Befragungen ergab einen sehr widersprüchliche, jedoch spannendes Ergebnis.
„Mehr als die Hälfte der Befragten empfindet kaum oder absolut nicht, dass sich Manager für sie verantwortlich fühlen, als ob sie zur Familie gehören würden. 45.6% der Studienteilnehmer/innen fühlen sich nicht wie Familienmitglieder behandelt.
Jedoch sind 61% der Befragten der Meinung, dass Manager versuchen, eine familiäre Atmosphäre am Arbeitsplatz zu schaffen. Es zeigt sich hier also eine sehr diverse Meinung zum Thema „Family Environment“.
Angela-Maria Weltler; Seite 59.
Mit anderen Worten: Viele Mitarbeitende erkennen das Bemühen der Manager:innen eine solche Atmosphäre zu schaffen. Doch es bleibt offenbar bei einem Bemühen und nicht bei einer tiefgreifenden und nachhaltigen Umsetzung. Fast jede:r zweite:r Befragte fühlt sich „wenig familiär“ behandelt. Auch dieses Ergebnis ist für Unternehmen wichtig.
Vor der Bewerbung:
Wie finden Sie heraus, ob das Unternehmen eine positive familiäre Kultur lebt?
Tipp 1:
Vermeiden Sie jedes Jobangebot bei dem mit einem „familiären Team“ oder einer ähnlichen Formulierung geworben. Allerdings müssen Sie damit rechnen, dass die Jobangebote deutlich weniger werden. Sie können auf jeden Fall den Check auf „kununu“ machen…
Tipp 2:
Fragen Sie als Bewerber:in, wie die familiäre Unternehmenskultur (Arbeitsatmosphäre etc.) gelebt wird. Fragen Sie nach konkreten Beispielen, wie die familiäre Atmosphäre gelebt wird.
Tipp 3: Achten Sie auf folgende Sätze
Normalerweise ist die Einarbeitungsphase dicht. Viele neue Eindrücke und Informationen müssen verarbeitet werden. Umso mehr sollten Sie bei folgenden – oder ähnlich formulierten – Sätzen hellhörig werden.
- „Wir sind alle wie eine große Familie, hier packt jeder gerne an“. Gerne auch mit dem Hinweis, dass man da nicht auf die Uhr schauen sollte. Oder es wird auf die Hands On-Mentalität verwiesen. Am besten kombiniert mit dem schönen Satz: „Work hard, play hard“.
- „Wir sind doch alle per du, da sollte die Kommunikaton doch leicht fallen“. Die Dutzkultur mit „liebe Alle“ als E-Mail-Anrede ist noch kein Garant für gute Kommunikation. Wenn diese Du-Kultur also in den Vordergrund gestellt wird – Obacht!
- „Bei uns sind die Hierarchien so flach, da braucht man keine formellen Prozesse (oder Jahresgespräch etc.)“ Die vermeintliche persönliche Nähe zu Vorgesetzen kann klare Vereinbarungen verhindern oder allgemeiner: Distanzlosigkeit wird als Argument genutzt, um professionelle Themen klein zu halten.
- „Probleme klären wir auf dem direkten Weg intern – wie in einer Familie.“ Achtung. Es gibt mit einiger Wahrscheinlichkeit keinen Prozess für Feedback, Beschwerden und Optimierung. Schwierige Themen werden vielleicht weggewischt oder unter den Teppich gekehrt.
- „Dafür musst du Verständnis haben…“ Statt Management von Bedürfnissen, Kritik oder Verbesserungsvorschlägen wird beschwichtigt.
- „Wir vertrauen uns eben wie in einer Familie, da braucht es keine überbordenden Regeln.“ (selbsterklärend)
- „Komm, heute bleiben wir alle noch etwas länger, das schaffen wir noch“ oder „Könnt ihr noch bleiben, wir machen das gemeinsam!“ Solidarität wird eingefordert, um Überstunden zu normalisieren.
Tipp 4: Wenn das Gesagte durch die Praxis widerlegt wird…
Auch wenn bestimmte Sätze nicht vorkommen, vermitteln einige Prozesse, wie es um die familiäre Atmosphäre steht.
- Kritik ist unerwünscht: Wer Probleme anspricht, gilt als Queralant:in.
- Grenzen werden nicht respektiert: Private und berufliche Sphären verschwimmen,
- Cliquenbildung und Best-Buddys: Es ist nicht ungewöhnlich, dass es in einem sozialen Gefüge zur Cliquenbildung kommt. Es kann aber sein, dass Cliquen gegeneinander arbeiten.
- Leistung wird glorifiziert: Erwartungen an Engagement und Opferbereitschaft sind unangemessen hoch.
- Wenig echtes Miteinander: Viel Gerede von „Zusammenhalt“, aber wenig Anerkennung oder faire Behandlung. Bei Krisen oder unangenehmen Arbeiten ducken sich viele weg.
- Fehlende Leitlinien: Strukturen, Prozesse oder HR-Richtlinien fehlen; wichtige Anliegen werden mit „familiären“ Sprüchen abgetan.
- Betriebsrat fehlt: Mit dem Verweis auf das familiäre Miteinander wird die Notwendigkeit eines Betriebsrates kleingeredet.
Es gibt natürlich auch – wie bereits gesagt – mit kununu und Co. genug Möglichkeiten, sich vorab über die gelebte Praxis in einem Unternehmen zu informieren. Allerdings sollte man bei gerade bei kununu (aber auch bei Bewertungsportale jeglicher Art) im Hinterkopf behalten, dass negative Kritik ausführlicher, länger und öfter geübt wird als positives Feedback. Lob wird deutlich weniger oft formuliert, weil es in unserer Kultur weitgehend selbstverständlich ist, dass Dinge funktionieren.
Wie kann man die „familiäre Atmosphäre“ in einen positiven strukturierten Prozess überführen
Wir wissen, dass eine positive familiäre Atmosphäre viel mit „Gehört-Werden“ und „Involviert-Werden“ zu tun hat. Daher möchte ich ein Tool an dieser Stelle vorstellen, das nicht alle Probleme löst, aber doch einiges in Bewegung bringen kann, weil es in vielen Unternehmen zu einem Perspektivwechsel führt und „ewige Querulant:innen“ in die Pflicht nimmt. Das Prinzip, dass man einsetzen kann ist jenes der Soziokratie. Marius Hasenstreit, Geschäftsführer von „sustentio“ in Berlin, schreibt in einem Deutschlandfunk-Beitrag:
„Bei der Soziokratie sollen alle Mitglieder einer Organisation, im Fall eines Unternehmens alle Mitarbeiter, nach dem Konsensprinzip eingebunden werden.
Ziel ist es, nicht nur auf basisdemokratische Art und Weise Entscheidungen zu treffen, sondern auch die Ideen und Vorschläge aller Mitarbeiter zur einer „Schwarmintelligenz“ zusammenzufassen. Gegenstimmen, in der Soziokratie-Sprache Widerstände genannt, werden hierbei unabhängig von ihrer Anzahl und der Position des Widerständlers ernst genommen.
Ernst nehmen ist das eine. Man kann noch einen Schritt weitergehen und versuchen bei allen wichtigen Entscheidungen echte Konsensentscheidungen herbeizuführen. Es werden Einwände solange bearbeitet bis alle zustimmen können – und Schweigen wird explizit als Zustimmung verstanden
Aber die Ausführungen über die Soziokratie und die methodische Implementierung in Unternehmen würden den Rahmen sprengen. Der Gedanke soll jedoch Anreiz dafür sein, die eigenen Mitarbeitenden mehr einzubeziehen und klare Prozesse und Strukturen einzuführen.
Und noch einmal zur Erinnerung an alle Unternehmen:innen. Streichen Sie das familiäre Team oder das familiäre Umfeld, oder wie auch immer der Stehsatz in Ihren Stellenangeboten lautet, bitte ersatzlos. Es sei denn Sie leben das Thema ohne wenn und aber.
Welche Erfahrunge haben Sie mit „familiären Arbeitsatmosphären“ gemacht? Lassen Sie uns einen Kommentar da.
Zum Einhören
Quellen und weiterführende Links:
- Sarah Sommer. Die Grenzen familiärer Unternehmenskulturen. www.humanresourcesmanager.de
- Samira Helbig. „Wir sind wie eine große Familie“ – warum diese Chef-Floskel problematisch ist“. t3n, 11. 08. 2020.
- Lena Sharma. „Wir sind eine Familie”: Wenn Unternehmenskultur übergriffig wird. Moment.at. 26. 03. 2024.
- Marius Hasenstreit. Die Firma ist nicht deine Familie. Deutschlandfunk Kultur. 2018.
- Angela-Maria Weltler. Einfluss von Personalklimafaktoren auf Mitarbeiter/innen und leistungsbezogene Resultate in Organisationen. Diplomarbeit, JKU Linz, 2015.
- Claudia Tödtmann. Was sagen die Arbeitgeberbewertungsportale über ihre Company? Bewerber gucken drauf – und entscheiden sich. wiwo.de. 22. August 2018,